Neurobiologie
Von einem, der das Gras wachsen hört

Prof. Hinterberger macht Gehirnströme hörbar. Sogar neuronale Signale von Pflanzen setzt er in Musik um. So dirigiert das Maiglöckchen ein Orchester.

22.05.2011 | Stand 16.09.2023, 21:08 Uhr
Heinz Klein

Regensburg.Angewandte Bewusstseinswissenschaften sind sein Arbeitsgebiet: Ein weites Feld, doch der Regensburger Professor Dr. Thilo Hinterberger nutzt den Spielraum. Er untersuchte, was in den Köpfen von Meditationsmeistern vor sich geht, erreichte mit neuartigen Techniken Patienten im Koma und entwickelte Kommunikationsmöglichkeiten für vollständig gelähmte Menschen, die in ihrem Körper gleichsam eingeschlossen sind.

Er machte die per EEG (Elektroenzephalogramm) gemessenen Rhythmen unseres Gehirns als „Brainmusic“ hörbar und hat seine EEG-Verstärker auch mal der Schlüsselblume und dem Schneeglöckchen angelegt. Den Sound ihrer Lebensäußerungen gibt es nun als Pflanzenmusik auf CD.

Gehirn und Computer

Der Neurowissenschaftler Thilo Hinterberger kommt eigentlich aus der Physik. Als Diplom-Physiker entwickelte und optimierte er Schnittstellen, die eine direkte Verbindung zwischen Gehirn und Computer herstellen können, sogenannte Brain-Computer-Interfaces (BCIs).

Zudem konstruierte er eine Schnittstelle, mit der es zum Beispiel möglich ist, über die Selbststeuerung von Hirnsignalen auf einem Computerbildschirm Buchstaben auszuwählen. Dieses computergesteuerte Neurofeedbacksystem (es heißt Thought Translation Device oder abgekürzt TTD), ist in der Lage, Signale aus dem Gehirn in Echtzeit zu verarbeiten, die Absicht des Benutzers zu erkennen und in ein Steuersignal umzuwandeln. Aus diesem TTD wurde in den letzten Jahren ein leistungsfähiges vielseitiges Feedback-System, das sogar eine Kommunikation mit vollständig gelähmten Menschen mit sogenanntem „Locked-In-Syndrom“ möglich macht.

Thilo Hinterberger habilitierte sich an der Medizinischen Fakultät der Universität Tübingen im Bereich Verhaltensneurobiologie und Neuroinformatik, ging für zwei Jahre an die Universität von Northampton, wirkte drei Jahre am Uniklinikum Freiburg und ist seit März dieses Jahres im Rahmen einer von den Heiligenfeld-Kliniken gestifteten Forschungsprofessur an der Universität Regensburg in der Abteilung Psychosomatik tätig.

Meditationsmeister untersucht

Seine Idee, Bewusstseinsprozesse zu messen, führte den Wissenschaftler nach Indien und Japan, wo er mehr als 50 Meditationsmeister während der Meditation mit einem 64-Kanal EEG untersuchte. „Meditation ist kein Zustand, sondern ein Prozess“, erzählt Hinterberger. „Es ist mehr als nichts tun, ein Zustand hoher Präsenz, offenen Gewahrseins, einer Wahrnehmung ohne Bewertung, wobei sich der Meditierende nicht von den Gedankenströmen seiner Wahrnehmung davontragen lässt.“ Hinterberger maß mit seinem EEG oft eine Zuname hochfrequenter Gammaaktivität, konnte allerdings kein typisches Aktivitätsmuster für bestimmte höhere meditative Zustände entdecken.

Schon seit den 1970er Jahren wird auf unterschiedliche Weise versucht, Gehirnsignale hörbar zu machen. Eine neuartige Methode dafür bietet die Entwicklung der Software „Poser“ („Parametrical Orchestral Sonification of EEG in Real-Time) auf der Basis von Thilo Hinterbergers TTD. „Es ist uns gelungen, ein System zu entwickeln, das die Hirnrhythmen ästhetisch in Klänge umsetzen kann“, strahlt der Professor. „Jede Frequenz und jeder Rhythmus, der aus dem EEG-Signal extrahiert wird, kann einem oder mehreren Instrumenten zugeordnet werden und damit eine vielstimmige Sonifikation (Hörbarmachung) der Gehirnaktivität ermöglichen“, erklärt er. Dies geschieht mit Verzögerungszeiten von nur wenigen Millisekunden.

Die Arbeitsteilung zwischen Gehirn und Computer ist folgendermaßen: der Computer stellt die Musikinstrumente dar, das Gehirn spielt als Dirigent und Musiker, indem es durch seine Rhythmen die Auswahl, den Ton und den Einsatz der Musikinstrumente bestimmt. In der Oper von Sydney stellte Thilo Hinterberger sein Konzert sonifizierter Gehirnsignale als Klanginstallation aus 16 Lautsprechern auf einem Kongress der Fachwelt vor.

Regensburg.Doch auch Pflanzen haben Lebensäußerungen. „Es gibt elektrische Prozesse in Pflanzen, die Wachstum oder etwa das Blühen steuern“, erzählt der Neuroinformatiker, der sich natürlich sofort fragte: „Was kann ich messen?“. Also rückte der Professor verschiedenen Blumen mit seinem EEG-Verstärker auf den Stängel und entdeckte ein reges pflanzliches Innenleben. „Es sind natürlich sehr viel langsamere Signalveränderungen als beim Menschen.“ Und so entstand bei der Hörbarmachung der Pflanzensignale eine getragene, meditative Musik.

Thilo Hinterberger ließ Krokus, Schlüsselblume, Tulpe, Narzisse und Schneeglöckchen sowie eine ganze Wiese ans Dirigierpult und vertonte die Rhythmen als orchestrale Pflanzenmusik mit 16 Instrumenten. Bald gibt es auch die Klänge des Waldes zu hören, doch die Schlüsselblume ist Hinterberges ganz persönlicher Favorit. „Es ist kein esoterisches Unterfangen, sondern eine künstlerische Sache mit einem wissenschaftlichen Aspekt“, zieht der Neuroinformatiker klare Grenzen. Seine Pflanzenmusik gibt er für Naturfreunde als CD heraus.

Brain-Dance als Tanzperformace

Mit der Musik aus dem menschlichen Hirnkastl (Brainmusic) ist der findige Wissenschaftler noch einen Schritt weiter gegangen. Zusammen mit Ottmar Gendera entwickelte er die Idee des Brain-Dance als einer Tanzperformance. Die choreographische Gestaltung übernahmen Professor Dieter Heitkamp (Hochschule für Tanz und Darstellende Kunst, Frankfurt), den tänzerischen Part inszenierte mit Begeisterung Carla Pulvermacher.

Die Musik des eigenen Gehirns zeitgleich selbst zu tanzen und die eigenen Gedanken mit Bewegungen zu interpretieren, das ist eine geschlossene Feedback-Schleife. „Ursache und Wirkung verschmelzen miteinander“, schwärmt Thilo Hinterberger.

Der hat natürlich schon längst wieder neue Ideen, um das Erleben der eigenen Gehirnaktivität noch einen Schritt weiter zu bringen. Doch darüber will er noch ein bisschen mit dem eigenen Hirnkastl beratschlagen, ehe er uns mehr dazu erzählt.