Bühne
Effektvolles Seemannsgarn: „Moby Dick“ am Residenztheater München

24.04.2024 | Stand 24.04.2024, 15:00 Uhr
Barbara Reitter-Welter

Ein manischer, höchst manipulativer Tyrann: Käptn Ahab, in München gespielt von Barbara Horvath. Foto: Hupfeld

Die schlechte Nachricht zuerst: Die Aufführung dauert 135 Minuten, ohne Pause durchgespielt. Die gute Nachricht: Die Zeit vergeht wie im Flug – und das abrupte Ende überrascht die Zuschauer dann wirklich.

So schlägt einen Stefan Puchers szenische Adaption des 1000-seitigen Mammut-Romans „Moby Dick“ von Hermann Melville in Bann. Seine Inszenierung ist ungeheuer bildstark, kurzweilig, suggestiv, vergagt und optisch, akustisch, textlich überraschend in jeder Phase. Dennoch bleibt die Bewertung zwiespältig.

Hat hier ein ebenso bekannter wie begnadeter Regisseur eine artifizielle Fingerübung abliefern wollen zum Beweis seiner Begabung, auch schwierigste epische Stoffe in den Griff zu bekommen? Auch fragt man sich nach der Motivation, gerade dieses Buch zu bearbeiten, unter anderem mit Hilfe des Schriftstellers Ewald Palmetshofer.

Im Vorfeld sagte Pucher in einem Interview, Melvilles „Moby Dick“ sei sein Lieblingsbuch. Doch als typisch deutscher Sinnsucher gründelt man natürlich im Untergrund der spannenden Story, wo sich etwas versteckt, was auf Aktualität verweist. Und wird fündig zumindest beim Thema Mensch und Natur, denn die Walfänger des 19. Jahrhunderts waren, trotz allen Respekts für die gewaltigen, von Mythen umwehten Riesen der Ozeane, auch brutale Schlächter. Mit Käptn Ahab trifft man auf das Exempel eines manischen, höchst manipulativen, wahnsinnigen Tyrannen, dem es gelingt, seine Mannschaft auf das irre Ziel einzuschwören, den weißen Wal zu killen, der ihm einst ein Bein abgerissen hat.

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Vielleicht wollte der Regisseur aber auch einfach nur eine gute Geschichte zwischen Abenteuer und Märchen erzählen und dabei ganz nah am Text, vor allem aber an den Originalpassagen bleiben. So dampfte das Bearbeitungsteam zwar die 1000 Buchseiten auf wichtige Episoden und Hauptfiguren ein, beließ aber den Collage-Charakter aus wissenschaftlichen Erklärungen, mythologischen Bezügen, philosophischen Exkursen und biblischen Deutungen, was zu überproportional vielen überlangen Monologen voller existenzialistisch-metaphysischer Schwurbelei führte. Die Monologe brach die Regie allerdings oft komödiantisch auf, wie beim Opening vor dem Eisernen Vorhang: Die Demonstration der Palstek-Technik des perfekten Knotens wurde da zur herrlichen Comedy-Einlage. Ähnlich wie eine plastisch herausgearbeitete Szene, in der drei Matrosen orgiastisch im Wal-Sperma baden.

Die wunderbaren Schauspieler agieren häufig zwischen Pathos und Parodie. Barbara Horvath ist hinreißend als Ahab, das orangerote Haar spiegelt sich in den roten Flecken im Gesicht der Mannschaft: Michael Goldberg als aufmüpfiger Steuermann, Thomas Lettow als gottgleicher Schmied, Felicia Chin-Malenski in der Rolle des neugierigen Neulings auf dem Dampfer oder Patrick Bimzabute als tanzender Walfänger, um nur einige zu nennen.

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Je textlastiger die Aufführung wurde, desto stärker wurde die Illustration durch andere Medien bemüht, umso mehr überbordende inszenatorische Ideen holte Pucher aus der großen Theaterkiste: höchst amüsante, perfekt gemachte Filmsequenzen, in denen die Schauspieler wie in Johnny Depps Piratenfilmen gegen Riesenwale kämpfen. Oder in der Stummfilm-Ästhetik von Friedrich W. Murnaus „Nosferatu“ in der Takelage herumturnen. KI verwandelt auf Video Menschen in Seeungeheuer, Wale bewegen sich dystopisch zwischen zerstörten Wolkenkratzern und fliegen über Pyramiden und der Walfänger trifft auf Hokusais Welle. Je weiter die Aufführung voranschritt, desto schneller wechselten im Hintergrund die optischen Einblendungen, während die Darsteller von gerundeten Charakteren abdrifteten zu skurrilen Marionetten. Männer im maritimen Look mutierten grundlos zu Frauen , auf der Leinwand geschah mehr als auf der Bühne.

Weil alle Sinne permanent gefordert sind durch unglaubliche Lichteffekte, aber auch melancholische Seemannslieder, hält die Inszenierung konsequent die Spannung. Das hängt allerdings auch mit Barbara Ehnes großartiger Bühnenlösung zusammen. Drei bewegliche Podeste und ein paar Planen lassen das Schiff auf stürmischer See assoziieren, ein paar Seile evozieren die Takelag. Der Rest – er findet in der Fantasie des Publikums statt.


„Moby Dick“ im Residenztheater München, zu sehen bis 18. Mai, Karten: (089) 2185 1940